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„Ma'agal. Die Mädchen von Zimmer 28“: Das Staunen über die Kraft der kreativen Resilienz —
Ein Projekt zu Erinnerungskultur von Olek Konrad Witt mit dem Gymnasium in Heide und dem Verein room28.
Die dramatische Lebensgeschichte von Helga Pollak, einem jungen jüdischem Mädchen, das in KZ Theresienstadt gefangen wurde, war das Thema eines Theaterprojektes, an dem sich 23 Schüler*innen der zehnten Klasse beteiligten. Im Fokus der künstlerischen und pädagogischen Auseinandersetzung stand das gemeinschaftliche Miteinander unter den besonders herausfordernden Lebensbedingungen und die existentielle Bedeutung der Kulturellen Bildung für Kinder und Jugendliche.
Historische Begebenheiten als Ausgangspunkt der Theaterarbeit
In Theresienstadt waren viele Künstler*innen, Pädagoge*innen und Visionäre eingesperrt. Sie alle hatten sich entschlossen, auch unter den menschenunwürdigen Bedingungen als Mensch zu leben und sich nicht der Angst und der Hoffnungslosigkeit auszuliefern. In verbotenen Unterrichtsstunden und halblegalen Aufführungen und Konzerten führten Künstler*innen und Pädagoge*innen die Kinder in eine Welt der Kreativität und Fantasie. Angesichts der grausamen Realität wurde mit Musik, Zeichenunterricht, Lesungen und Theateraufführungen alles Mögliche getan, um eine positive, zukunftsweisende Atmosphäre zu schaffen, in der der Überlebenswille nicht zu brechen war. In einer menschenfeindlichen Zeit war das Zimmer 28, mit ca. 30 jungen Mädchen auf 40 qm, wie "eine Insel in einem tobenden Meer" (Helga Pollak). Dort wurden Werte wie Mitmenschlichkeit, Freundschaft, Solidarität und Toleranz gelebt.
Die Tagebucheintragungen Helga Pollaks aus der damaligen Zeit, die Notizen ihres Vaters und die Liedern der in Auschwitz ermordeten Dichterin und Musikerin Ilse Weber bildeten die Grundlagen für die gemeinsame Theaterarbeit.
Interdisziplinäre Arbeit als Ausgangpunkt der Prozesse
Vor dem künstlerischen Prozess wurden die Schüler*innen im Geschichtsunterricht und von der Autorin Hannelore Brenner mit historischem Wissen vorbereitet. Nach einer täglichen Warmup-Phase von ca. 60 Minuten fand eine Diskussion zu den aktuellen Fragen des gemeinsamen Arbeitsprozesses statt. Danach verlief die weitere Arbeit in kleineren Gruppen mit bis zu sieben Schüler*innen. In den Kleingruppen wurde zu Themen wie Freundschaft, Angst oder Solidarität gearbeitet. Die dabei entstanden Improvisationen, die am Ende des Tages präsentiert wurden. Aus diesen Improvisationen wurden an den folgenden Tagen feste Szenen entwickelt.
Neben der Entwicklungen von Spielszenen ging es darum, sich mit ausgewählten Textfragmenten aus dem Tagebuch von Helga Pollak zu beschäftigen und zu überlegen, wie diese Texte auf die Bühne gebracht werden können.
Um möglichst viele Schülerinnen und Schüler am Bühnengeschehen teilhaben zu lassen, haben wir uns entschieden, dass die Rolle von Helga nicht von einem einzigen Mädchen gespielt wird, sondern dass ihre Texte abwechselnd von verschiedenen Schülerinnen und Schülern gesprochen und dargestellt werden. Ähnlich war es bei der Verteilung der Textstellen von Otto Pollak. Dokumentarische Szenen, die nüchtern ohne allzu stark psychologisierendes Spiel dargestellt wurden, wurden in der Inszenierung mit den aus den Improvisationen entstanden fiktionalen Szenen verwoben.
In diesem Projekt haben wir versucht die Ideen, Potentiale und Bedürfnisse der Schüler*innen partizipatorisch einzubinden. Die Schüler*innen, die nicht auf der Bühne auftreten wollten hatten die Verantwortung für das Bühnenbild, Requisite, Licht und Technik übernommen. Nach sieben Tagen von Workshops und Proben gelang es den Schüler*innen mit der Aufführung am 10. Juni 2021 ein beeindruckendes und berührendes Ergebnis.
Fazit: Erinnerungsarbeit braucht vor allem eines - Zeit.
Durch eine künstlerische Intervention in der Schule können Schülerinnen und Schüler ihre kreativen und sozialen Kompetenzen auf experimentelle Weise ausprobieren und vertiefen. Aber eine nachhaltige Intervention, die mehr als eine kurzfristige „Störung“ ist, ist ein Unterfangen, das viel Zeit, eine organisatorische Vorbereitung, und technische und finanzielle Ressourcen benötigt. Von allen Beteiligten wird starke Motivation abverlangt. Schüler*innen müssen gut mit notwendigem Wissen vorbereitet werden, damit sie offen und mit Mut an dem Gestaltungsprozess und an einer Theateraufführung selbstbestimmend teilnehmen können. Besonders wertvoll ist es, wenn die Schüler*innen in diesem kreativen Prozess die eigenen Erfahrungen, Gefühle und Ideen in ein gemeinsames Theaterstück einbringen können.
Theater und Schule sind Orte, wo Gefühle zum Ausdruck kommen und diese Gefühle mit anderen geteilt und reflektiert werden. Im erinnerungskulturellen Kontext soll es dabei nicht um Mitleid oder um Schuldgefühle, sondern um Entfachen von Neugier und um das Stellen von Fragen gehen. Das Beispiel der Kindheit von Helga Pollak ermöglicht das Staunen über die Kraft der kreativen Resilienz und über die Lebenskraft, die Menschen auch in den dunkelsten Zeiten mit Hilfe von Kunst und Kultur entwickeln können. Die Neugier, das Entdecken und das Staunen fördert nicht nur eine ungezwungene und nachhaltige Beschäftigung mit der Geschichte, sondern trägt zur Persönlichkeitsentwicklung von jungen Menschen bei.
Das historische Wissen, das reflektiert, diskutiert und in einer künstlerischen Auseinandersetzung mit theaterpädagogischen Methoden verhandelt und am Ende aufgeführt wird, führt nicht zuletzt zu den persönlichen Fragen: Welchen Mehrwert zieh die Menschheit aus dem Thema der Erinnerung? Weshalb ist der Blick in die gemeinsame und in die individuelle Vergangenheit wichtig für unsere Zukunft? Und ist es sinnvoll, dass sich Kinder und Jugendliche intensiv auch mit schmerzhaften Erinnerungen beschäftigen?
Weitere Informationen zu Olek Witt gibt es hier. Anfragen können auch über seine Projekthomepage gestellt werden.