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Reflexion als kulturelle Praxis - kulturelle Bildung als Reflexionspraxis - Thanassis Kalaitzis —

Dieser Artikel wurde spezifisch für die Gesamtdokumentation des Projektes Fallstudien verfasst. Thanassis Kalaitzis war seinerzeit Kulturagent in der Alfred-Nobel-Schule und arrangierte die Beteiligung des Theaterkurses mit dem Projekt . Für die Theaterklasse konnte die Theater- und Performancekünstlerin Chryssa Tzampazi gewonnen werden. Die Aufgabe war es mit dem Lehrer eine Performance zum Thema "männliche Gewalt" zu entwickeln und mit dem Gorki X abzustimmen. Insgesamt waren 9 Schulen beteiligt. Alle Schulen lieferten einen Teil einer Gesamtaufführung im Gorki X zum Abschluss der Spielzeit 2014/2015.

Das Thema Reflexion wurde deshalb gewählt, weil im Verlauf des Schuljahres wiederholt Störungen in allen Zusammenhängen der Arbeit entstanden, die durch die drei Erwachsenen (Lehrer, Künstlerin, Kulturagent) allein durch Reflexion untersucht und verstanden werden konnten. Die Frage entstand, wie auch die Schüler*innen lernen könnten, Reflexion als Teil des Projektes zur Arbeitspraxis werden zu lassen.  

Reflexion als kulturelle Praxis - kulturelle Bildung als Reflexionspraxis - Thanassis Kalaitzis

Projekt Fallstudien und die Schule

Im Projekt Fallstudien des Gorki X spielt das neuralgische Thema Gewalt eine zentrale Rolle. Als Thema wurde es durch einen Aufführungsbesuch an junge Berliner*innen ›weitergegeben‹, die dazu eine eigene künstlerische Antwort finden sollen, die also dieses Thema reflektieren und dann selbst als Künstler*innen tätig werden sollen. Hier stellt sich die Frage: Welchen Platz hat die Reflexion über Kunst in kulturellen Bildungsprojekten und wer unterstützt die Schüler*innen dabei, Reflexion zu lernen und zu nutzen, um so ihr eigenes künstlerisches Schaffen zu verstehen und weiterzuentwickeln?

Um mich nicht in den Begrifflichkeiten aus zweitausend Jahren philosophischer Analyse und Annäherung an den Begriff ›Reflexion‹ zu verstricken, möchte ich hier eine aus der eigenen reflektierenden Praxis generierte Aufteilung in zwei Formen der Reflexion vorschlagen: Die beobachtende, analytische Reflexion und die erlebende, selbstbezogene Reflexion. Diese Aufteilung leite ich aus meinen Beobachtungen ab, in denen ich mich und viele Mitmenschen in reflektierenden Momenten an – und auch zwischen – diesen beiden Polen erlebe, also dem des Aus-sich-Heraustretens und dem des In-sich-Gehens.

Beide Praxen funktionieren quasi dialogisch – so ist die eine ein Dialog in der inneren Welt, die andere ein Dialog mit der äußeren Welt (vgl. Luhmann, 1996, S. 601/617). Beide Dialogformen sind jeweils eine Strategie und Praxis, sich selbst und seine Umwelt zueinander ins Verhältnis zu setzen, um daraus Möglichkeiten der Veränderung abzuleiten und diese innerlich und äußerlich durchzuführen. Diesen Prozess könnte man durchaus als Lernen bezeichnen (vgl. Pagès 1974). Die Fähigkeit, diesen Dialog führen zu können, erwirbt jeder Mensch mehr und weniger gut. Schüler*innen fangen gerade damit an, diese Dialogkompetenz zu entwickeln, beispielsweise durch Projekte der kulturellen Bildung, in denen Lernen anders gestaltet ist als im Regelunterricht.

In der Klasse der Alfred-Nobel-Schule, die im Rahmen des Modellprogramms »Kulturagenten für kreative Schulen« einen Teil der Gesamtaufführung von Fallstudien mit entwickelte, ging es neben der Beschäftigung mit dem Kernthema der Impuls gebenden Aufführung FALLEN – männliche Gewalt und ihre performativen Figuren – auch darum, den Schüler*innen das Theater als Kunstform näherzubringen. Das bedeutete für die durchführenden Künstler*innen und den Klassenlehrer, nicht nur inhaltlich zu arbeiten, sondern auch das künstlerische Arbeiten im Theater, mit Rollen und Charakteren mit Körper und Raum, mit Bühne und Publikum zu thematisieren. Das Erleben einer Differenz von alltägli- chem Handeln und dem Verstehen eines künstlerischen Aktes beispielsweise als Darsteller*in war so auch eine reflektorische Aufgabe für die künstlerischen Leiter*innen. Denn nur das Erleben (pathein) oder Analysieren (mathein) dieser Neu-Positionierung zu sich und der Welt erlaubt es, künstlerisches Tun von Matheaufgaben oder Müll-Runterbringen zu unterscheiden.

Die Klasse 

In der Alfred-Nobel-Schule war eine achte Klasse an Fallstudien beteiligt. Die Schüler*innen waren zwischen 14 und 15 Jahren alt. In einem Interview mit dem Klassenlehrer Dietmar Knaack beschrieb er die Fähigkeit zur Reflexion bei den Teilnehmenden als nur geringfügig ausgebildet. Was er für sich selbst als gelegentliche Alltagspraxis, als »Introspektion« bezeichnete, als das »Kommen und Gehen von Ideen, die mir helfen, Entscheidungen zu treffen und Gutes zu behalten und Nicht-Gelungenes abzulegen, also zu lernen« ist eine Befähigung, für die er über 50 Jahre Zeit hatte, um sie zu entwickeln. Für seine Schüler*innen sah er Lern- und Entwicklungserfolge nur »in Millimeterschritten«, denn »Reflexion bedarf einer inneren Haltung, eines Hauses, vielleicht auch Normen, und die Schüler*innen entwickeln die gerade erst«.

Auch die Performance-Künstlerin Chryssa Tsampazi, die den Kurs in der Alfred-Nobel-Schule künstlerisch leitete, beschrieb die Reflexionsfähigkeit der Schüler*innen als wenig ausgebildet. Sie selbst versteht Reflexion als Prozess, in dem viele Fragen gestellt werden. »Die Ideen, die dabei entstehen, entwickle ich weiter und füge sie zusammen wie ein Gedicht. Meine künstlerische Arbeit ist immer ein Dialog mit der Welt!«

Der Kulturagent

Da es als Kulturagent meine Aufgabe ist, Projekte nicht nur strukturell hinsichtlich von Formaten, geeigneten Klassen, Kooperationspartnern u.ä. vorzubereiten, sondern diese auch inhaltlich vorzudenken, formulierten die Künstlerin, der Lehrer und ich gemeinsam das dialogisch-reflektierende Arbeiten als eines der Ziele dieses Projektes. Zum einen, weil für mich persönlich Reflexion eine grundlegende Technik ist, (mein) soziales Sein mit der Welt ins Verhältnis zu setzen und abzugleichen. Reflexion hat aber auch im Kulturagentenprogramm einen wichtigen Platz eingenommen: So wurde sie, als ein wesentlicher Bestandteil von (kultureller) Bildung, als zentrales Thema eines einwöchigen Fortbildungsmoduls mit Künstler*innen und Wissenschaftler*innen thematisiert. Hierzu war beispielsweise Emily Pringle eingeladen, die uns über ihre Arbeit als Leiterin der Abteilung Learning and Research in der Tate London berichtete und darüber sprach, welche Rolle Reflexion für ihr Team und die Ziele ihrer Vermittlungsarbeit spielt.

Reflexion als Grundlage und Technik der Kulturellen Bildung

Pringle berichtete, dass sie mit ihrem Team regelmäßige Reflexionssitzungen durchführe, die sich vielfach mit Werten und Normen, inneren wie äußeren, beschäftigen. Sie richtete diese Reflexionspraxis als regelmäßige Struktur deshalb in der Vermittlungsabteilung der Tate Gallery ein, weil ihr ansonsten im Arbeitsalltag zu oft die Zeit und der Raum dafür zu fehlen schien. Da Reflexion – nicht nur in der Schule – oft implizit erledigt wird, forderte sie klare Rahmenbedingungen, die Reflexion ermöglichen und als Alltagspraxis prozessuales Denken und Handeln – also Lernen – begünstigen (vgl. Pringle 2015).

In der Alfred-Nobel-Schule war es für die Arbeit an den Fallstudien nicht immer einfach, einen festen Raum für Reflexion einzurichten. Lehrer und Künstlerin berichten, dass die – auch nach der Aufführung fortgesetzte – Theaterarbeit jetzt erst, also nach fast acht Monaten, auch hinsichtlich der Reflexionspraxis der Schüler*innen Früchte trage. Die wiederholte dialogische Arbeit mit der Gruppe führte, so Chryssa Tsampazi, dazu, »dass die Schüler*innen angefangen haben, Fragen zu stellen. An sich, an die Gruppe und an mich als Künstlerin.« Es sei ein Arbeitsstand erreicht worden, der über die reinen Sachfragen zu Gewalt, wie sie erlebt wird und wie sie zustande kommt, hinausginge. Jetzt würde nach der Qualität von darstellerischer Arbeit gefragt, ob Ton und Charakter getroffen wurde und wie die Gruppe Einzelne als Darsteller*innen und nicht mehr als Klassenkamerad*innen wahrnähme. Dazu käme auch, dass sich die reflektorischen Gespräche zu- nehmend um Theater als Kunstform drehten und nicht nur über die Wirkung ihrer Performance auf der Bühne. »Was wir brauchen, ist eine langfristige Arbeit, damit die Schüler*innen eine Chance bekommen, ihr früheres Tun mit einem jeweils aktuellen Stand zu vergleichen«, forderte Chryssa Tsampazi deshalb.

Aus dieser Darstellung möchte ich zwei Aspekte herausheben:

Projekte der kulturellen Bildung – gerade jene mit Schüler*innen zwischen 12 bis 16 Jahren – brauchen mehr Dialogzeit für die Verankerung von künstlerischer Prozesskompetenz. Das heißt, dass ich als Kulturagent in der Planung von Projekten nicht nur genauer abwägen werde, wie viel Zeit neben der inhaltlich-künstlerischen Arbeit explizit für Reflexion eingeplant wird, sondern auch, was das für die Formulierung und Erreichung realistischer Ziele in den anvisierten Projektzeiträumen bedeutet.

In Projekten der kulturellen Bildung aller Kunstbereiche sollte Reflexion in unterschiedlichen Formaten expliziter Bestandteil sein und als solche transparent bei Lehrer*innen und Schüler*innen angekündigt werden, um so den verbreiteten Widerstand (»Schon wieder labern? Wann geht es endlich weiter? Wofür brauchen wir das überhaupt?«) zu umgehen und Reflexion produktiv zu machen.

Dann besteht die Chance, dass durch kontinuierliche Übung und Wiederholung von Reflexion eine innere Neupositionierung und damit ein neuer Dialog mit der Welt möglich wird, der wiederum einen Lernfortschritt begünstigt.

Verweise

1.) Luhmann, Niklas (1996): Soziale Systeme. Frankfurt: Suhrkamp
2.) Pagès, Max (1974): Das affektive Leben der Gruppen. Stuttgart: Klett
3.)Akademiemodul Reflexion 2014, Darstellung der Inhalte und Ergebnisse in der Publikation des Modellprogramms "Kulturagent*innen für kreative Schulen", Link zum Artikel (letzter Zugriff 2024-10-15)
4.) Pringle, Emily (2015): The Value of ­Reflection­ bzw.­Der­Wert­der­Reflexion. www.kulturagenten-programm.de Berlin: Onlinepublikation des Modellprogramms »Kulturagenten für kreative Schulen« 2011–2015, Link zum Artikel (letzter Zugriff 2024-12-12)
5.) Tate London Learning and Research

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